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Sozialkritische Fotos nach Motiven Alter Meister
Der Brite Tom Hunter fotografiert im Londoner Viertel Hackney
Es ist ein Klassiker der Kunstgeschichte: Jan Vermeers Bild “Briefleserin am offenen Fenster” aus dem 17. Jahrhundert. Dem britischen Fotografen Tom Hunter diente es als Vorlage für sein bekanntestes Foto.
“Frau, einen Räumungsbescheid lesend”
Bild vergrößern bzw. verkleinern Bildunterschrift: Tom Hunters bekanntestes Foto: “Frau, einen Räumungsbescheid lesend” (Ausschnitt) ]
Im Londoner Stadtteil Hackney, der bis zum Bau des Olympiastadions als Problemviertel mit hoher Kriminalität galt und wo der Künstler selber seit vielen Jahren lebt, hat er es anhand einer realen Geschichte neu inszeniert: Eine junge Mutter aus der Hausbesetzerszene studiert statt eines Briefes ihren Räumungsbescheid, anstelle einer Obstschale wie im Originalbild liegt im Vordergrund ihr Baby auf dem Bett.
Angeblich ist die Geschichte gut ausgegangen und die junge Frau konnte in ihrer Wohnung bleiben. In jedem Fall aber brachte das Foto „Frau, einen Räumungsbescheid lesend“ Tom Hunter, damals noch Student am Londoner Royal College of Art, den Durchbruch. 1998 wurde es mit dem Kobal Photographic Portrait Award ausgezeichnet und war ein Jahr später in der renommierten Saatchi Gallery in der Gruppenausstellung “Neurotic Realism” zu sehen.
Sorgsam komponierte Tableaus
Auch seine folgenden Fotoserien wie “Life and Death” oder “Living in Hell and Other Stories” siedelte Tom Hunter in Hackney an und griff dabei auf historische Vorbilder aus der Malerei zurück.
Bild vergrößern bzw. verkleinern Bildunterschrift: Der Bildband “The Way Home” gibt einen Überblick über Tom Hunters Werk. (Ausschnitt Buch-Cover) ]
Mit dem an den Ikonen der Kunstgeschichte geschulten Blick schaut Tom Hunter in seinen sorgsam komponierten Tableaus auf den Alltag der Menschen in seiner Umgebung und taucht deren Lebenswelt in die Farben und das Licht der Alten Meister. Seine fotografische Methode hat einen doppelten Effekt: Während in die vertrauten Motive einerseits die Gegenwart mit ihrer sozialen Realität einbricht, wird andererseits den gesellschaftlichen Randgruppen zugleich Aura und Würde verliehen. So entstehen faszinierende und überraschende Momentaufnahmen aus dem heutigen Großbritannien.
Derzeit sind einige seiner Arbeiten in der Londoner National Gallery in der Ausstellung “Seduced by Art” zu sehen. Sie spürt der Beziehung zwischen historischen Gemälden und der Fotografie vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach.
Streifzüge durch das urbane Labyrinth Hackneys
Der jetzt bei Hatje Cantz erscheinende Bildband “The Way Home” gibt einen Überblick über Tom Hunters Werk. “Mein Thema war immer schon Hackney”, schreibt er in seinem Vorwort. “Meine Kunst ist beeinflusst von Vermeer, aber auch von den Prä-Raphaeliten und einigen anderen historischen Bildern.” Versammelt sind in “The Way Home” Fotografien aus den letzten 25 Jahren, in denen Tom Hunter hinter die glitzernden Fassaden der britischen Metropole blickt und uns an seinen Streifzügen durch das urbane Labyrinth eines Londoner Viertels teilnehmen lässt.
Tom Hunter
Bild vergrößern bzw. verkleinern Bildunterschrift: Fotograf Tom Hunter ]
Ebenso ungewöhnlich wie seine Arbeiten ist auch Tom Hunters Weg zur Kunst und Fotografie. 1965 in Dorset geboren, verließ er als 15-Jähriger die Schule und verdingte sich anschließend sieben Jahre als Arbeiter.
1986 zog er nach Hackney im Osten Londons und fand einen Job als Baumpfleger. Eine Aufführung von Shakespeares “Mittsommernachtstraum” wurde für ihn zur Initialzündung: Er besuchte Abendkurse und absolvierte anschließend ein Studium an der Kunstakademie. Später stellte er Szenen des Theaterstücks mit Sambatänzerinnen und Stripperinnen für seine Fotoserie “A Midsummer Nights’s Dream” nach.
Schon vor dem Studium hatte Tom Hunter seine Affinität zur Fotografie entdeckt, lichtete Freunde und Nachbarn ab. Die negative Berichterstattung über Hackney gab seiner Arbeit zusätzliche Impulse: “Es machte mich ganz krank, dass diese Menschen, die ich kannte, in den Medien als Abschaum bezeichnet wurden”, erinnert er sich. “Ich sagte zu mir: ‘Wir sind kein Abschaum, wir sind Menschen wie andere auch und das müssen wir zeigen.’ Obschon ich in diesem Viertel lebte, hatte ich mich nie als Außenseiter gefühlt, sondern als Teil unseres Landes. Und ich fand, dass meine Stimme gehört werden sollte. In der Art und Weise, in der ich die Menschen von Hackney fotografierte, hoffte ich, Empathie hervorzurufen.”
Buchtipp
Tom Hunter: The Way Home
Texte von Geoff Dyer, Tom Hunter, Michael Rosen u.a.
Hatje Cantz Verlag 2012, Preis: 45 Euro
ISBN 978-3-7757-3456-1